John Gilchrist, Jam‘ al-Qur’an

Die Codifizierung des Korantextes war ein vielstufiger und von Unsicherheiten geprägter Prozess. Gilchrist zeigt zunächst, dass der Koran zu Lebzeiten Muhammads weder vollständig aufgeschrieben noch in einem festgelegten chronologischen oder thematischen Zusammenhang gesammelt war. Stattdessen wurden die Offenbarungen über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg fragmentarisch übermittelt und auf verschiedensten Materialien vermerkt, primär aber im Gedächtnis der Rezitatoren bewahrt. Muhammad selbst verfügte keine umfassende schriftliche Zusammenstellung. Vielmehr fügte er Passagen flexibel in bereits bestehende Suren ein, was eine kontinuierliche Neuordnung des Materials nahelegt.

Nach Muhammads Tod 632 entstand durch die hohe Zahl getöteter Qurra in der Schlacht von Yamama die Furcht, große Teile des Textes könnten verloren gehen. Deshalb beauftragte Abū Bakr Zaid ibn Thabit mit der Sammlung aller bekannten Stücke, die in Bruchstücken vorlagen oder im Gedächtnis von Gefährten tradiert waren. Dieser erste Kodex blieb zunächst im Besitz Hafsas, der Tochter ʿUmars. Uthmān initiierte dann eine umfassende Revision dieses Textes, ließ ihn in mehreren Kopien abschreiben und schickte sie in die Provinzen, während andere Kodizes – darunter die bekannten Versionen von Ibn Masʿūd und Ubayy ibn Kaʿb – verbrannt wurden. Dies geschah, um die wachsenden Differenzen zwischen den Lesarten in den Provinzen zu unterbinden. Gilchrist betont hier, dass diese Verbrennung von konkurrierenden Manuskripten ein klares Indiz für reale textliche Unterschiede und nicht bloß für unterschiedliche Ausspracheregeln war.

Der Autor hebt hervor, dass gerade die unterschiedlichen Listen von Suren in den Kodizes von Ibn Masʿūd und Ubayy sowie Berichte über „fehlende“ Verse (z.B. bei Abu Khuzaimah) darauf hinweisen, dass es zu Beginn des 7. Jahrhunderts noch keine endgültig kanonisierte Fassung gab. Mehrere Hadithtexte legen nahe, dass einzelne Verse bei Zaid zunächst gar nicht gefunden wurden und nur dank gezielter Hinweise hinzugefügt werden konnten. Auch Umar soll laut Tradition beklagt haben, dass manche Verse bei Yamama untergegangen seien, weil ihre Rezitatoren getötet wurden und es keine schriftlichen Kopien gab.

Gilchrist stellt somit heraus, dass die heute gültige Standardfassung nicht eine „perfekt konservierte“ Offenbarung war, sondern Ergebnis pragmatischer Auswahl und Vereinheitlichung unter politischem Druck. Die Vorstellung, der Korantext sei bis ins letzte Zeichen identisch zum Lebzeiten des Propheten tradiert worden, erscheint vor diesem Hintergrund problematisch. Vielmehr wurde die Sammlung unter Zaid und die spätere Uthmanische Redaktion maßgeblich davon geprägt, dass man fragmentierte, mündlich und schriftlich parallel überlieferte Stücke miteinander versöhnen und zusammenfügen musste.

Zudem betont Gilchrist die Bedeutung der unterschiedlichen Qira’at. Zwar wird in späteren Quellen argumentiert, dass die „sieben Ahruf“ eine legitime Vielfalt von Lesarten abdecken, jedoch zeigt er, dass Uthmān tatsächlich nicht sieben, sondern nur eine Lesart im offiziellen Mushaf festschreiben ließ. Dadurch verschwanden andere Varianten aus der öffentlichen Rezitation. Gilchrist bewertet das als einen harten Eingriff in eine historisch plural überlieferte Offenbarung.

Besonders bemerkenswert sind folgende zehn Beispiele für textkritische oder überlieferungskritische Fragen, wie sie Gilchrist im Buch anspricht:

  1. Sure 9:128–129 wurde nur bei Abu Khuzaimah gefunden, nicht bei anderen; ohne diesen Fund wäre ihr Status ungesichert geblieben.
  2. Sure 33:23 war bei der Uthmanischen Redaktion zunächst übersehen worden und musste nachträglich ergänzt werden.
  3. Der Steinigungsvers (rajm) wurde von Umar überliefert, galt als offenbarte Vorschrift, steht aber nicht mehr im heutigen Koran.
  4. Stillen von Erwachsenen (zwei Jahre), ebenfalls nach Umar offenbart, soll gestrichen worden sein, nachdem der Überlieferer starb.
  5. Ibn Masʿūds Musḥaf hatte z.B. die Fatiha und zwei Schutzsuren nicht enthalten, was den heutigen Textbestand infrage stellt.
  6. Ubayy ibn Kaʿb listete in seiner Sammlung zusätzliche Suren, die nicht im Uthmanischen Text erhalten sind (z.B. Suren über Dankbarkeit und gegen Heuchelei).
  7. In der Schlacht von Yamama gingen viele Verse unwiderruflich verloren, weil die Qurra getötet wurden, ohne dass ihre Texte niedergeschrieben waren.
  8. Ein Vers über den „unersättlichen Menschen“ wurde nach Gilchrist zwar überliefert, aber nicht in den Kanon aufgenommen.
  9. Hadithberichte zeigen, dass Muhammad selbst gelegentlich Verse vergaß und erst durch andere daran erinnert wurde, was das Prinzip eines fehlerfreien Prophetenproblematisiert.
  10. Die von Uthmān befohlene Verbrennung aller anderen Kodizes impliziert, dass diese Manuskripte nicht vollständig gleichlautend waren, sonst wäre eine Vernichtung überflüssig gewesen.

Gilchrist zeigt damit, dass der Entstehungsprozess des Korantextes weniger als ein statisches Bewahrungswunder zu sehen ist, sondern eher als ein komplexer Aushandlungs- und Vereinheitlichungsprozess innerhalb der frühen islamischen Gemeinschaft. Die Sammlung des Materials aus oft lückenhaften, verstreuten Quellen, die erst im Nachhinein geglättet und redigiert wurden, lässt zahlreiche Fragen offen. Das gilt besonders für die Integrität von Versen, die zunächst unbekannt waren oder nur bei einzelnen Überlieferern gefunden wurden, und für die Streichung von Passagen, die nach den Überlieferungen durchaus ursprünglich als Offenbarung galten, jedoch keinen Eingang in die kanonische Redaktion fanden.

Zusammenfassend legt Gilchrist dar, dass der heutige Koran zwar einen stabilisierten, hoch verehrten Standardtext darstellt, dass dieser jedoch durch eine politisch motivierte Kanonisierung entstand und auf einer vielstimmigen und teils widersprüchlichen Überlieferung aufbaute. Diese Erkenntnis wird durch die genannten zehn Beispiele eindrucksvoll illustriert. Besonders die Vernichtung konkurrierender Kodizes durch Uthmān unterstreicht, dass Varianten existierten, die nicht bloß punktuelle Aussprachefragen betrafen, sondern tatsächliche textliche Differenzen. Damit wird die Vorstellung einer im Wortlaut „von Anfang an bis heute“ vollkommen einheitlichen Offenbarung aus historisch-kritischer Perspektive erheblich relativiert.

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